Das Buch … mutet bisweilen an wie ein ‚Supermarkt‘ der Weisheit. Man kauft dort nichts, findet aber von allem etwas: eine bunte Mischung von Sprüchen, Sentenzen, Lobliedern, ethischen, liturgischen, historischen Betrachtungen ….

Das Sirachbuch wurde also ursprünglich hebräisch verfasst. Es ist aber nur auf griechisch vollständig erhalten. Seit der Arbeit des Enkels entwickelten sich beide Textversionen parallel zueinander, aber nicht unabhängig voneinander durch Fortschreibungen weiter. Es gibt daher einen griechischen Kurztext (G-I-Version) und einen griechischen Langtext (G-II-Version), aber auch einen hebräischen Kurztext (H-I-Version) und hebräischen Langtext (H-II-Version). Als Grundbestand des Buches gilt im Allgemeinen der hebräische Kurztext, sofern er von dem griechischen Kurztext bestätigt wird. Vereinfachend kann man die H-I-Version als das Werk Ben Siras, die G-I-Version als das Werk des Enkels ansehen.

Ein bemerkenswertes Phänomen ist das Verschwinden und Wiederauftauchen des hebräischen Sirachtextes. Schon in der Antike wurde die hebräische Version des Buchs anscheinend von der griechischen Übersetzung hinsichtlich Bekanntheit und Verbreitung „überlagert.“ Dadurch galt das Sirachbuch im Judentum als eines jener neuen, griechischen Bücher, die bei den Christen besonders beliebt waren.[25] Es geriet an den Rand des Traditionsstroms und gelangte nicht in den jüdischen Kanon heiliger Schriften.

Der Weg, auf dem die hebräischen Sirachfragmente erhalten blieben, lässt sich so rekonstruieren:

  • Das hebräische Sirachbuch gehörte zu der Literatur, die vor dem Jahr 70 n. Chr. in Höhlen am Toten Meer nahe Qumran deponiert wurde.
  • Bis zum Ende des Jüdischen Krieges blieb die Festung Masada in der Hand der Aufständischen. Die Zeloten und ihre Familien richteten sich Wohnquartiere in der Kasemattenmauer ein. Jemand – vielleicht aus Jerusalem oder aus Qumran[26] kommend – brachte eine Schriftrolle mit dem Text des Sirachbuchs in eine dieser Behelfsunterkünfte.
  • Um das Jahr 800 n. Chr. berichtete Timotheos I., der nestorianische Patriarch von Seleukia-Ktesiphon, in einem Brief, dass in der Nähe von Jericho „in einem Felsen ein Häuschen und darin viele Bücher“ entdeckt worden seien. Die Jerusalemer Juden „kamen in Menge heraus und fanden die Bücher des alten (Testaments) und andere in hebräischer Schrift.“[27] Unter diesen Schriftrollen vom Toten Meer befand sich anscheinend auch das hebräische Sirachbuch, das in der Folge in jüdischen Gemeinden kopiert und verbreitet wurde.[28] Saadja Gaon kannte diesen Text, denn er zitierte daraus (Sefer haGalui, 10. Jahrhundert n. Chr.). Mittelalterliche Abschriften des antiken hebräischen Sirachtextes wurden neben vielen anderen Texten in der Geniza der Ben-Esra-Synagoge in Kairo niedergelegt. Eine solche Vermutung könnte sehr spekulativ erscheinen, doch war unter den Texten der Kairoer Geniza auch die aus Qumran stammende Damaskusschrift, die eigentlich nur durch Fund eines antiken Textdepots ins mittelalterliche Kairo gelangt sein konnte.
  • Nach dem 12. Jahrhundert verschwand der hebräische Sirachtext zum zweiten Mal, um erst seit 1896 wieder aufzutauchen.

Unter den alten Übersetzungen sind die ins Syrische und ins Lateinische von besonderer Bedeutung:

  • Syrisch (Peschitta), 3./4. Jahrhundert n. Chr. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Hebräischen unter Benutzung des griechischen Langtextes.[29] Allerdings gibt es bedeutende Abweichungen sowohl zu den hebräischen Textfragmenten als auch zur griechischen Handschriftentradition. Burkard Zapff kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um eine interpretierende Übersetzung, ähnlich einem Targum, handle. Deshalb sei die syrische Übersetzung für die Rekonstruktion der hebräischen Textvorlage nur mit großer Vorsicht zu gebrauchen.[30]
  • Lateinisch (Vetus Latina), Ende 2. Jahrhundert n. Chr. im christlichen Nordafrika.[31] Da Hieronymus das Buch Jesus Sirach nicht übersetzte, ging dieser lateinische Text – allerdings nicht unverändert[32] – in die Vulgata ein. Zugrunde liegt der griechische Langtext (G-II-Version), und zwar ohne Blattvertauschung. Der Vulgatatext ist die Version, in der das Sirachbuch im Mittelalter gelesen wurde.

 

Ben Sira verfasste sein Lehrbuch offenbar nicht in einem Zug, sondern nahm fertige weisheitliche und hymnische Texte, kombinierte sie mit kürzeren selbstverfassten Texten und edierte sie in mehreren Schüben.[34] Oft wird eine Dreiteilung des Werks angenommen, wobei die Kleinteiligkeit der Sprichwort- und Sentenzenreihen im ersten und zweiten Hauptteil in einem deutlichen Gegensatz zu den Großkompositionen von Kapitel 24 einerseits und dem durchkomponierten dritten Hauptteil andererseits stehen.[34] Autobiografische Notizen und Gebetstexte sind Gliederungssignale.

Er ist ein Grenzgänger zwischen Religionen und Konfessionen: Obwohl es im Judentum nie als heilige Schrift galt, wurde im Talmud mit Ben Sira argumentiert, als wäre er ein Rabbi. Ben Sira stattete die Frau Weisheit mit Zügen der ägyptischen Gottheit Isis aus. Identifiziert mit Maria, wird sie in katholischer Frömmigkeit angerufen als „Mutter der schönen Liebe“. Im gleichen Zusammenhang wurden dem Sirachtext einige Pflanzen als Mariensymbole entnommen. Martin Luther entfernte das Sirachbuch aus dem Alten Testament und ordnete es unter die Apokryphen ein; aber im Luthertum wurde es im 16. und 17. Jahrhundert viel gelesen und inspirierte die Kirchenmusik. In der Spätantike und dann wieder in der Frühen Neuzeit war das Sirachbuch im Christentum eine Art Ratgeberliteratur.