Als Goldene Regel (lateinisch regula aurea) bezeichnet man einen alten und verbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik,[1] der auf der Reziprozität menschlichen Handelns beruht, in konventionellerFormulierung:

„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ 

Konfuzius (551–479 v. Chr.) antwortete laut seinen um 200 n. Chr. aufgeschriebenen Analekten einem Schüler auf die Frage, was sittliches Verhalten sei (A. 12,2):[9]

„Begegne den Menschen mit der gleichen Höflichkeit, mit der du einen teuren Gast empfängst. Behandle sie mit der gleichen Achtung, mit der das große Opfer dargebracht wird. Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. Dann wird es keinen Zorn gegen dich geben – weder im Staat noch in deiner Familie.“ 

Das Mahabharata, eine Grundlagenschrift des Hinduismus und Brahmanismus (entstanden von 400 v. bis 400 n. Chr.), enthält als zentrales Prinzip:

„Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit (Dharma).“

Im Samyutta Nikaya aus dem Palikanon lehrt Buddha ausgehend vom Wunsch jeder Person, nicht zu sterben, für sich Glück zu suchen und Leid zu verabscheuen:[19]

„Was für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, das ist auch für den anderen eine unliebe und unangenehme Sache. Was da für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, wie könnte ich das einem anderen aufladen?“ 

Die mittelpersische Schrift Shâyast lâ-shâyast („Angemessenes und Unangemessenes“, entstanden 650–690 n. Chr.) zählt die rechten und unrechten Taten des Menschen auf. Sie nennt als religiöse Hauptziele unter anderen:[25]

„…eins ist somit, anderen alles das nicht anzutun, was einem selbst nicht wohltut;
 das zweite ist, voll zu verstehen, was wohlgetan und was nicht wohlgetan ist …“

Die Schrift Dâdistân-î Dinik (um 880 n. Chr.) überliefert den Antwortbrief eines Hohenpriesters auf einen ihm gestellten Fragenkatalog von Weisen des Zoroastrismus. Im Schlusskapitel erörtern die Empfänger seine Antworten: Der vom Schöpfergott Ahura Mazda gegebene Weg des Guten werde durch allerlei von Ahriman, seinem bösen Gegenspieler, eingegebene Gedanken und Ablenkungen gefährdet. So wie der Dämon den Schöpfer nicht verletzen könne, sondern nur sich selbst, so könnten böse Gedanken nur einen selbst verletzen. Daraus wird gefolgert,[26]

„… dass diese Natur [des Menschen] nur gut ist, wenn sie anderen nicht antut, was immer ihrem eigenen Selbst nicht gut tut.“ 

Für Philo von Alexandria (ca. 15 v. – 40 n. Chr.) gehörte die negative Regel „Was jemand zu erleiden hasst, soll er selbst nicht tun“ laut Fragmenten seiner griechischen Hypothetica zu den ungeschriebenen, aber allgemein bekannten Gesetzen. Ihre Bekanntheit bei Nichtjuden setzte auch Hillel (um 30 v. – 10 n. Chr.) voraus, indem er nach dem Traktat Shabbat 31a im Talmud auf die Frage eines Proselyten nach dem alle übrigen Gebote erfüllenden Hauptgebot antwortete:[46]

„Was dir verhasst ist, das tue deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung. Geh, lerne!“

Mit dem wortgleichen ersten Satz beantwortete laut Talmud auch Rabbi Akiba eine Schülerbitte, die ganze Tora an einem Tag zu lehren. Dazu hätten sogar bei Mose 40 Tage und Nächte auf dem Berg Sinai nicht ausgereicht. Auch Hillels Imperativ zufolge sollte die Regel die Toragebote nicht ersetzen, sondern zu ihrer Befolgung anleiten. Demgemäß taucht sie in seinen Gebotskommentaren sonst nicht auf. 


In der frühchristlichen Literatur war die Regel im Anschluss an Mt 7,12 als ethische Maxime verbreitet. In der Didache folgt sie dem Doppelgebot der Liebe:[56]

„Erstens sollst du Gott lieben, der dich geschaffen hat, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst; alles aber, was du willst, dass es dir nicht geschehe, das tue auch du keinem anderen.“

Sie schließt hier Handlungen aus, die der Gottes- und Nächstenliebe widersprechen, und lässt sich demnach für Christen nicht als klug berechnende Vorteilssuche – handle so an anderen, wie du dir davon Nutzen für dich versprichst (do ut des) – deuten.


Im Koran fehlt eine wörtliche Version der Regel. Einzelne Suren werden jedoch manchmal als Analogien dazu aufgefasst, etwa Sure 24,22 (Sie sollen verzeihen und nachlassen. Liebt ihr selbst es nicht, dass Gott euch vergibt?)[59] oder Sure 83,1–6, die mit dem Hinweis auf Gottes Endgericht vor Betrug beim Abmessen warnt und gleiches Maß beim Geben und Nehmen anmahnt.


Im Kitab-i-Aqdas, dem Heiligsten Buch der Bahai-Religion, steht die Regel: „Wünschet anderen nichts, was ihr nicht für euch selbst wünschet.“ Vom Religionsstifter Baha'ullah ist ferner die Aussage überliefert: „Und wenn du auf Gerechtigkeit siehst, dann wähle für deinen Nächsten, was du für dich selbst wählst.“ 



George Bernard Shaw kritisierte die Regel 1903 ironisierend:

„Behandle andere nicht, wie du möchtest, dass sie dich behandeln. Ihr Geschmack könnte nicht derselbe sein.“

Die goldene Regel sei, dass es keine goldenen Regeln gebe.[92]

Ernst Haeckel betrachtete die „2500 Jahre alte“ Regel Tue jedem anderen, was du willst, das er dir tun soll 1904 als „ethisches Grundgesetz“ seines Monismus.[93]

Max Scheler beschrieb die Regel 1913 als Ausdruck des universalen Solidaritätsprinzips und „ewigen Bestandteil“ und „Grundartikel eines Kosmos endlicher sittlicher Personen“. Gegenseitigkeit gehöre wesentlich zum Menschsein, weil sich Personsein nur in der Ich-Du-Beziehung herausbilde und alles moralisch relevante Verhalten bedinge und bestimme.[94]

Leonard Nelson verstand Kants Kategorischen Imperativ 1917 im Anschluss an Jakob Friedrich Fries als Gesetz, das gegenseitige Gleichbehandlung von Freien und Gleichen verlange. Dazu gehöre ein „Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Interessen“, aus dem er sein „Abwägungsgesetz“ ableitete:[95]

„Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“

Sich in die betroffenen Personen hineinzuversetzen, um dann nach deren Neigungen zu entscheiden, genüge nicht:[96]

„…wir müssen uns der Reihe nach in die eine und andere Situation versetzen und dabei von der Vorstellung ausgehen, dass unsere Interessen im einen oder anderen Fall kollidieren, so dass wir auf die Wahl zwischen ihnen angewiesen sind und nur das eine befriedigen können, auf die Befriedigung des anderen dagegen verzichten müssen.“

Edward Wales Hirst sah 1934 einen Vorteil der positiven Regelform gegenüber dem Kategorischen Imperativ: Jener sei nur „unipersonal“ in Relation des Einzelnen zum universalen Sittengesetz gültig. Dieses schließe zwar aus, Andere als Mittel für eigene Zwecke zu missbrauchen, erlaube unter Umständen aber, ihnen Schaden zuzufügen, wenn es der allgemeinen Moral zuträglich sei. Dagegen verlange die „interpersonale“ Regel, sich dem Nächsten zuzuwenden, ihn zu respektieren und auch für sein Wohl zu sorgen.[97]

Karl Popper erklärte in den 1930er Jahren im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie, es gebe kein absolutes Kriterium für moralische Richtigkeit. Die Regel sei „ein guter Maßstab“ und gehöre zu den wichtigsten Entdeckungen der Menschheit, könne in deren Lernprozess aber eventuell noch verbessert werden, etwa „indem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen“.[98] Diese Formulierung ist als „Platinregel“ etwa in Ratgebern für Managerkurse oder Arbeitsplatzverhalten beliebt.[99]

Hans Reiner verstand die Regel 1948 als mit dem Menschsein unlösbar verbundene „sittliche Grundformel der Menschheit“. Er unterschied drei Deutungen: Als Einfühlungsregel fordere sie, sich in den Anderen und seine Lage zu versetzen. Als Autonomieregel verlange sie, das eigene Tun bzw. Wünschen in gleicher Lage autonom zu beurteilen. Als Gegenseitigkeits- oder Rückbezüglichkeitsregel verpflichte sie dazu, diese Beurteilung dem eigenen beabsichtigten Verhalten zugrunde zu legen, es also danach auszurichten, was wir von Anderen wollen und erwarten, nicht danach, was wir für uns selbst wollen und was andere tatsächlich tun. Dies impliziere eine ethische Norm, den Respekt vor der Menschenwürde des Anderen, aus der gegenseitige Anerkennung und Rücksichtnahme folgten.[100] Damit betonte Reiner gegenüber Albrecht Dihle den grundsätzlichen Unterschied der Regel zum Vergeltungsprinzip.[101]

Erich Fromm sah die Popularität der Regel 1956 durch ihre Fehldeutung begründet: Sie werde meist als Fairness im Sinne des kapitalistischen Tauschgesetzes „Ich gebe dir so viel wie du mir“ aufgefasst. Danach respektiere man die Rechte Anderer, ohne sich für sie verantwortlich und mit ihnen eins zu fühlen, und verzichte auf Betrug beim Austausch von Gebrauchsgütern, aber auch bei Gefühlen in persönlichen Beziehungen. Ursprünglich bedeute die Regel jedoch Bereitschaft, aus Nächstenliebe für den Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen. Diesen Unterschied zur Fairness zu erkennen sei wesentlich für die Kunst des Liebens.[102]

Marcus George Singer untersuchte 1961, in welchen Fällen die von Kants Imperativ verlangte Verallgemeinerung eine Handlung moralisch ausschließe: Was würde geschehen, wenn jeder/keiner das täte? Diese Frage, so erklärte er 1985, umfasse auch die von der Regel verlangte Frage: Was wäre, wenn jemand dasselbe dir/mir tun würde? Dieses Argument basiere auf dem Prinzip:[103]

„Was für den einen richtig [oder falsch] ist, muss auch für jeden anderen mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen und unter ähnlichen Umständen richtig [oder falsch] sein.“

Darum sei nach den relevanten Faktoren für den Vergleich von Personen und Situationen zu fragen, die das besondere Handeln rechtfertigen. Daher unterschied er 1963 eine partikulare – „tue anderen, was du (in diesem Einzelfall) an ihrer Stelle erwarten würdest“ – von einer allgemeinen Regeldeutung – „tue anderen, wie du (nach dem gleichen Prinzip) an ihrer Stelle behandelt werden möchtest“. Er lehnte die partikulare Deutung ab, da sie gleichförmige Charaktere unterstelle und an extremen Neigungen anderer scheitere. Die richtig verstandene Regel verlange also, zwischen momentanen Wünschen und langfristigen Interessen des Anderen zu unterscheiden und nur letztere angemessen zu berücksichtigen.[104] – Diese Deutung wurde jedoch kritisiert: Auch diese Unterscheidung unterstelle anderen mit den eigenen übereinstimmende, gleichartige Interessen; beim Absehen vom Einzelfall könne man diese unter Umständen gar nicht erkennen; so verliere die Regel ihre konkrete Anwendbarkeit.[105]

Richard Mervyn Hare analysierte in seiner 1963 vorgestellten Theorie des moralischen Argumentierens zunächst die Sprachlogik moralischer Urteile. Der Satz „A sollte X [nicht] tun“ beinhalte eine Verallgemeinerung („jeder/niemand in A's Situation sollte X tun“) und eine Vorschrift („tue X in A's Situation [nicht]!“). Man könne also rein logisch ein solches Urteil nur fällen, wenn man bereit sei, sich selbst danach zu richten. Damit lasse sich die Haltbarkeit moralischer Urteile testen: Würde ich, falls in A's Situation befindlich, genauso urteilen, dass ich X [nicht] tun sollte? Hare präzisierte den Rollentausch: Der Handelnde müsse sich nicht vorstellen, wie er mit seinen eigenen Eigenschaften, Wünschen und Abneigungen, sondern mit denen des Anderen an dessen Stelle handeln würde. Dritte müssten daher nicht im Konjunktiv fragen – „was würdest du sagen/fühlen/denken, wenn du an seiner Stelle wärest?“ –, sondern:[106]

„Was sagst du über diesen hypothetischen Fall, in dem du in der Position des Betroffenen bist?“

John Rawls stellte mit seiner Theory of Justice 1971 eine moderne egalitäre Vertragstheorie vor. In einem Gedankenexperiment bezog er das von der Regel verlangte Hineinversetzen in die Interessenlage der vom eigenen Handeln Betroffenen auf eine für alle gleiche hypothetische Ausgangssituation (original position): In dieser wäre Jedem die eigene künftige gesellschaftliche Stellung und die aller anderen gänzlich unbekannt (Schleier des Nichtwissens), die möglichen Regeln und Gesetze der Sozialordnung dagegen vollständig bekannt. Dann, so Rawls, würde Jeder jene Gerechtigkeitsprinzipien wählen, die ein ideales Gleichgewicht zwischen individuellen und allgemeinen Interessen bewirken können.[107]

Amitai Etzioni, ein wichtiger Vertreter des Kommunitarismus, bezog die Goldene Regel auf die gesellschaftliche Ordnung, für die der Einzelne Verantwortung trägt, und formulierte: „Achte und wahre die moralische Ordnung der Gesellschaft in gleichem Maße, wie du wünschst, daß die Gesellschaft deine Autonomie achtet und wahrt.“[108]

Hans-Ulrich Hoche stimmte Hare 1978 zu: Die Regel solle anderen nicht die eigenen Wünsche in gleicher Lage unterstellen, sondern deren Wünsche, Interessen und Bedürfnisse berücksichtigen. Er schlug daher die Formulierung vor:[109]

„Behandle jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“

Hares Frageform stelle den Handelnden vor die tatsächliche Situation des Anderen und ermögliche seine konkrete Entscheidung, mit der er sich für diesen Fall festlege. Im Konjunktiv formulierte Fragen verrieten eine für den fraglichen Einzelfall irrelevante Regelanwendung. Auch zwei Einwände Kants – sein Richter- und Misanthrop-Beispiel – beruhten auf derartiger Fehldeutung. Die richtig angewandte Regel begründe sehr wohl die „schuldigen Pflichten“ und die „Liebespflichten“ gegeneinander.[110] Hoche schlug deshalb 1992 eine verallgemeinerte Regelfassung vor:[111]

„Wenn ich will, dass niemand in einer Situation von der und der Art soundso handelt, dann bin ich moralisch verpflichtet, in einer Situation von der und der Art nicht soundso zu handeln.“

Diese Formulierung sei nur eine „deontische Rekonstruktion“ der von Thales und Pittakos überlieferten ältesten abendländischen Regelbeispiele. Ihr Vorteil sei, dass sie „nur ein Verhalten an sich beurteilt, ganz gleichgültig, gegenüber wem es stattfindet, und ob es vielleicht ein Verhalten des andern nur bei und zu sich selbst ist.“[112] Damit lasse sie sich auch auf die Pflichten gegen sich selbst anwenden und könne somit Kants dritten Einwand entkräften.[113]

Hans Kelsen sah die Regel wie das Prinzip des Suum cuique und das Talionsprinzip als eine inhaltsleere Formel der Gerechtigkeit an. Sie sei gleichbedeutend mit dem Grundsatz, anderen keinen Schmerz, sondern Lust zu bereiten. Ein solcher Grundsatz würde aber jede Rechtsordnung und jedes System von Moral aufheben, weil dann etwa Verbrecher nicht bestraft werden dürften, da niemand gern bestraft werde. Sinn könne die Regel nur innerhalb einer objektiveren Ordnung haben: dass man sich anderen gegenüber so zu verhalten habe, wie diese sich auch mir gegenüber gemäß dieser Ordnung verhalten sollen. Dies würde zum kategorischen Imperativ führen. Wie die Regel, sei auch der kategorische Imperativ auf eine schon bestehende Rechts- bzw. Sittlichkeitsordnung angewiesen und könne diese nur bestätigen, nicht näher definieren. Letztlich sage die Regel dann nur aus, dass man sich an die bestehende Ordnung halten solle.