Seit der Antike bezeichnet Askese eine Übungspraxis im Rahmen von Selbstschulung aus religiöser oder philosophischer Motivation. Angestrebt wird damit die Erlangung von Tugenden oder Fähigkeiten, Selbstkontrolle und Festigung des Charakters.

Die Aspekte der Freiwilligkeit und des bewusst angestrebten übergeordneten Ziels gehören zumindest theoretisch immer dazu. Daher gilt jemand, der unter dem Zwang äußerer Umstände wie Nahrungsmittelknappheit und Armut ein bescheidenes, genussarmes Leben führt, nicht als Asket. Allerdings ist Askese oft ein Bestandteil strikter religiöser oder sozialer Normen, die für Angehörige bestimmter Gruppen oder in manchen Fällen für alle Gläubigen verbindlich sind. Der Übergang zwischen Freiwilligkeit und Zwang, bloßer Empfehlung und mit Sanktionsandrohung verbundener Vorschrift ist daher fließend.[3]

Erscheinungsformen von Askese, die in unterschiedlichen Kombinationen auftreten, sind:

  • zeitweiliger oder dauerhafter Verzicht auf alle oder manche Genussmittel und insbesondere Meidung von Rauschmitteln
  • Nahrungsaskese (Fasten oder Beschränkung der Ernährung auf das Lebensnotwendige)[4]
  • sexuelle Enthaltsamkeit (zeitlich befristet oder dauerhaft als Zölibat)[5]
  • Verzicht auf Kosmetik und Körperpflege (beispielsweise auf Waschen, Bart- und Haareschneiden; das Haar wird ganz oder teilweise rasiert oder es wird überhaupt nicht mehr geschnitten)[6]
  • bescheidene oder auch grobe, unbequeme Kleidung, in manchen Fällen auch Nacktheit[7]
  • Schlafentzug[8]
  • freiwilliges Aushalten von Kälte oder Hitze
  • harte Schlafstätte
  • Verzicht auf Besitz, freiwillige Armut, Betteln[9]
  • Rückzug aus der normalen sozialen Gemeinschaft[10]
  • Einordnung in die Gruppendisziplin einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft, die Verzicht auf Befriedigung persönlicher Bedürfnisse fordert
  • Gehorsam gegenüber einer spirituellen Autoritätsperson, beispielsweise einem Abt oder Guru[11]
  • Kommunikationsverzicht (Schweigegebot)[12]
  • Beschränkung der Bewegungsfreiheit (Klausur, Einsiedlerzelle)
  • Heimatlosigkeit, „Hauslosigkeit“ (permanente Wanderschaft, Pilgerwesen)[13]
  • körperliche Übungen wie die japanische Laufaskese im Ritual Kaihōgyō,[14] langes Stehen, ausdauerndes Sitzen in besonderen Positionen[15]
  • körperliche Schmerzen und Verwundungen, die der Asket sich selbst zufügt, als Sonderform der Askese.

Als Vorbild der Tugendhaftigkeit galt Sokrates (469–399 v. Chr.). Sein Schüler Xenophon lobte seine Selbstbeherrschung (enkráteia) und befand, Sokrates habe es darin von allen am weitesten gebracht. Er habe gegenüber Frost und Hitze und allen Mühseligkeiten die größte Ausdauer besessen und die Selbstbeherrschung als Grundlage der Tugendhaftigkeit betrachtet, da ohne sie alle Bemühungen vergeblich seien.[35] Xenophon betonte die Notwendigkeit der geistigen und körperlichen Übung als Mittel zur Erlangung solcher Selbstkontrolle; nach seinem Bericht behauptete Sokrates, durch Üben könnten die von Natur aus Schwächsten die Stärksten übertreffen, falls diese das Training vernachlässigten.[36] Eine ausführliche Beschreibung der Selbstdisziplin des Sokrates und seiner Ausdauer im Ertragen von Mühen und Strapazen gab sein berühmter Schüler Platon in dem literarischen Dialog Symposion. Diese vorgelebte philosophische Askese stieß bei den Zeitgenossen allerdings auch auf Kritik. So verspottete der Komödiendichter Aristophanes den Lebensstil des Kreises um Sokrates; er sah darin eine abwegige Modeerscheinung.[37]

Platon plädierte für eine einfache und naturgemäße Lebensweise im Gegensatz zu der üppigen, die er tadelte. Damit meinte er aber nicht Rückkehr zu einer primitiveren Zivilisationsstufe, sondern Reinigung von allem Übermäßigen. Dadurch werde beim Menschen Besonnenheit und innere Ordnung erzeugt. Die lebensnotwendigen Bedürfnisse seien zu befriedigen, nicht aber die, die über das Notwendige hinausgehen. Wie sein Lehrer Sokrates betonte Platon die Wichtigkeit der Erlangung von Selbstkontrolle. Unter Askese verstand er geistige Übungen, die sich auf das Denken und Wollen beziehen und auf aretḗ (Tüchtigkeit, Tugendhaftigkeit, „Gutsein“) abzielen: Man solle „die Gerechtigkeit und die übrige Tugend“ einüben. So übend solle man leben und sterben, dies sei die beste Lebensweise.[38] In den damaligen Diskussionen über die Erziehung und Charakterbildung wurde das Gewicht und das Zusammenspiel dreier Faktoren erörtert: der Naturanlage, der Belehrung und des praktischen Einübens (áskēsis).[39]

 

Bei den Stoikern erhielt das asketische „Üben“ eine herausragende Rolle in der philosophischen Lebensführung. Bei ihnen stand der Aspekt der Enthaltung und des Verzichts im Vordergrund. Askese wurde primär als geistige Disziplin aufgefasst. Die körperlichen Aspekte waren ebenfalls wichtig, aber zweitrangig. Körperliche Praktiken ohne geistige Basis und Zielsetzung galten als nutzlos; eine äußerliche, demonstrative Askese mit dem Ziel, andere zu beeindrucken, wurde entschieden abgelehnt.[40] Beherrschung der Gedanken und Triebe sollte den stoischen Philosophen von der Tyrannei der wechselhaften Gemütszustände befreien und ihm damit innere Ruhe und Freiheit verschaffen. Erstrebt wurde die „Apathie“ (apátheia): Zurückdrängung leidvoller und destruktiver Affekte wie Zorn, Furcht, Neid und Hass, im Idealfall Freiheit des Gemüts von jeder Erregung. Die so aufgefasste Apathie galt in der Stoa als Voraussetzung für die Ataraxie (Gelassenheit, Unerschütterlichkeit). Viel Anklang fand das stoische Askese-Ideal in der römischen Kaiserzeit. Der Stoiker Epiktet machte detaillierte Angaben über die erforderlichen Übungsschritte. Ein prominenter stoischer Asket war Kaiser Mark Aurel. Die kaiserzeitlichen Stoiker forderten Erfüllung der Bürgerpflichten, zu denen nach ihrer Überzeugung auch für Philosophen das Heiraten und Kinderzeugen gehörte.

Das Judentum wies ursprünglich wenig asketische Züge auf, da die Welt als Schöpfung Gottes positiv eingeschätzt und der Genuss ohne Misstrauen betrachtet wurde. Manche Vorschriften zu einer befristeten Enthaltsamkeit und Regulierung des Genusses in der Zeit des Tanach wurzelten nicht in asketischem Gedankengut, sondern in alten magischen Vorstellungen. Dazu gehörte der Glaube an die kultisch verunreinigende Wirkung des Geschlechtsverkehrs, der den Priestern daher vor kultischen Handlungen untersagt war. Auch Weingenuss war vor dem Opferdienst verboten. Zur Vorbereitung auf den Empfang einer göttlichen Offenbarung wurde gefastet.[47]

Die Ausbildung einer asketischen Denkweise begann mit dem Aufkommen des kollektiven Bußfastens, das öffentlich als Ausdruck der Reue angeordnet wurde, um den Zorn Gottes zu stillen und sein Strafgericht abzuwenden. Es entstand die Vorstellung, dass gemeinsames oder auch individuelles Fasten Gott wohlgefällig sei und daher die Wirksamkeit von Gebeten verstärke oder bewirke, dass Gott ein zuvor nicht erhörtes Gebet schließlich doch erhöre. Das Fasten wurde zu einem verdienstlichen Werk, für das man Lohn erhoffte.[48]

In der frühen römischen Kaiserzeit erhob der platonisch beeinflusste Theologe Philon von Alexandria eine philosophisch begründete Askeseforderung. Für ihn waren der Patriarch Jakob und Mose vorbildliche Asketen.[49] Zu Philons Zeit gab es im Judentum bereits eine asketische Strömung; er schildert das Leben der „Therapeuten“, einer Gemeinschaft ägyptischer Juden, die ihren Besitz aufgaben und sich zu einem gemeinsamen asketischen Leben aus den Städten in dünn besiedelte Gegenden zurückzogen.[50] Asketisch orientiert waren auch die Essener, eine Gruppe frommer Juden, die auf persönlichen Besitz verzichteten und ein einfaches, genügsames Leben mit Gütergemeinschaft führten. Von ihnen berichtet Flavius Josephus, dass sie die Vergnügungen als Laster betrachteten und die Tugend in der Selbstkontrolle und Überwindung der Leidenschaften sahen. Fortpflanzung lehnten sie ab, stattdessen adoptierten sie fremde Kinder.[51]

In der mittelalterlichen jüdischen Philosophie gewannen unter dem Einfluss des Neuplatonismus oder auch asketischer Strömungen des Islam (Sufismus) weltablehnende Ideen und Konzepte der Entsagung an Bedeutung. Das jüdische Exils-Bewusstsein trug zur Verstärkung solcher Tendenzen bei. Ein gemäßigter Asketismus in Verbindung mit einer neuplatonisch gefärbten Weltsicht findet sich beispielsweise im Buch der Herzenspflichten von Bachja ibn Paquda und im Traktat Meditation der traurigen Seele von Abraham bar Chija, eine negative Wertung sinnlicher Vergnügungen bei Maimonides sowie in der Kabbala. Maimonides’ Sohn Abraham zitiert in seinem Kompendium der Diener Gottes Autoren des Sufismus. Die früher vorherrschende Meinung, dem Judentum sei die Askese gesamthaft fremd gewesen und geblieben, wird in der neueren Forschung korrigiert, und es werden unterschiedliche asketische Impulse bei mittelalterlichen jüdischen Autoren in den Blick genommen. Gemeinsam ist diesen jüdischen Askesebefürwortern, dass sie einen Rückzug aus der Gesellschaft verwarfen. Sie erwarteten vom Asketen, dass er am gesellschaftlichen Leben Anteil nehme und seine sozialen Aufgaben erfülle.

Im Neuen Testament kommt das Substantiv Askese nicht vor und das Verb askein nur an einer Stelle (Apostelgeschichte 24,16) im Sinne von ‚sich bemühen‘ ohne Zusammenhang mit Askese. Jesus kritisierte die zu seiner Zeit gängige Praxis einer demonstrativen Askese (Matthäus 6,16–18), doch richtete sich diese Kritik nicht gegen die Askese als solche, sondern gegen ihre Zurschaustellung in der Absicht, dadurch Ansehen zu gewinnen.

Obwohl ein Begriff fehlt, wird Verzicht im asketischen Sinn im Neuen Testament oft und ausführlich thematisiert. Beispiele sind in den Evangelien Markus 8,34: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (vgl. Lukas 9,23); Lukas 14,26: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (vgl. Lukas 14,33); Matthäus 5,29 f.: „Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! […] Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg!“; Lukas 21,36: „Wacht und betet ohne Unterlass“ (aufgegriffen in 1 Thessalonicher 5,17 und 2 Timotheus 1,3); Matthäus 6,16–18 (Empfehlung des Fastens mit Verheißung eines himmlischen Lohns dafür); Matthäus 19,12 (Ehelosigkeit um des Himmelreichs willen); Matthäus 19,21: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben“. Jesus weist auf seine Heimatlosigkeit hin, er „hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Matthäus 8,20). Unter den Evangelisten betont vor allem Lukas die Notwendigkeit strenger Askese. Er nennt neben der Gerechtigkeit die Enthaltsamkeit (enkráteia) als wesentliches Merkmal der christlichen Lehre.[54]

Anhaltspunkte zur Begründung einer asketischen Weltablehnung bieten auch Stellen im Johannesevangelium (Johannes 15,19) und im ersten Johannesbrief (1 Johannes 2,15–17). Hinzu kommt das Beispiel des Asketen Johannes des Täufers und seiner Jünger. Er predigte in der Wüste, ernährte sich von Heuschrecken und wildem Honig und ließ seine Jünger fasten (Markus 1,4–6 und 2,18; Matthäus 11,18).[55]

In den Briefen des Apostels Paulus wird verschiedentlich asketisches Gedankengut vorgetragen. Dabei kommt das Vokabular des sportlichen Wettkampfs (Agon), insbesondere des Wettlaufs, zum Einsatz. Paulus vergleicht die Mühen einer christlichen Lebensführung mit der Disziplin der Athleten, die Entbehrungen auf sich nehmen, um einen Kampf zu gewinnen. Das Ziel ist der Siegeskranz, den der Apostel zu einer eschatologischen Metapher macht.[56] So schreibt er: „Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen. Darum laufe ich nicht wie einer, der ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt; vielmehr züchtige und unterwerfe ich meinen Leib“ (1 Korinther 9, 25–27); „Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben“ (Römer 8,13); „Darum sage ich: Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen. Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber“ (Galater 5,16 f.); „Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ (Galater 5,24); „Darum tötet, was irdisch an euch ist: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist“ (Kolosser 3,5). Die Askese, die Paulus befürwortet, ist geistbezogen; er kritisiert das Quälen des Körpers, das in Wirklichkeit nur zur Befriedigung der irdischen Eitelkeit diene (Kolosser 2,23). Auch der Verfasser des Ersten Timotheusbriefs, der sich gegen Ehe- und Speiseverbote wendet, warnt vor einer Überbetonung der körperlichen Übung (1 Timotheus 4,8).

Ab dem 2. Jahrhundert ist der Begriff Askese in griechischer theologischer Literatur bezeugt. Er wurde zuerst in Alexandria verwendet, wo der Einfluss Philons nachwirkte. Schon früh machte sich im erbaulichen Schrifttum der Christen ein asketischer Zug bemerkbar. Gewöhnlich begründete man die Enthaltsamkeitsforderung mit der Nachfolge Jesu, manchmal auch mit der Endzeiterwartung; man glaubte sich für die Schrecken der bevorstehenden Endzeit vor dem Weltuntergang wappnen zu müssen. Ein weiteres Motiv war der unablässige Kampf gegen den Teufel, den nach einer damals verbreiteten Überzeugung nur Asketen gewinnen können.[58] Hinzu kam bei manchen Christen der Wunsch, schon in der Gegenwart die künftige Daseinsweise im Himmelreich, wo es keine irdischen Genüsse geben soll, vorwegzunehmen und möglichst wie die Engel zu leben.[59]

In den Apokryphen zum Neuen Testament, besonders den apokryphen Apostelakten, die zur erbaulichen Unterhaltungsliteratur des frühen Christentums zählten, wurde auf Keuschheit und Armut großer Wert gelegt. Der im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert tätige Kirchenvater Clemens von Alexandria hob die Bedeutung asketischer Übung hervor und empfahl die Ausrottung aller triebhaften Regungen. Er deutete allerdings das Armutsgebot der Evangelien nicht buchstäblich, sondern allegorisch: Der Besitz, den man aufgeben müsse, seien die unerwünschten Leidenschaften.[60] Dieser Ansicht widersprach im 3. Jahrhundert Origenes, der sich für ein streng wörtliches Verständnis einsetzte und argumentierte, sogar ein Nichtchrist, der ursprünglich reiche Kyniker Krates von Theben, habe seinen gesamten Besitz verschenkt, um seelische Freiheit zu erlangen; daher müsse ein Christ erst recht dazu in der Lage sein.[61] Origenes interpretierte die Nachfolge Jesu so radikal, dass er die Stelle Matthäus 19,12, wo von freiwillig herbeigeführter Eheunfähigkeit um des Himmelreichs willen die Rede ist, als Aufforderung zur Kastration deutete und sich daher als junger Mann von einem Arzt kastrieren ließ.[62] Seine Entscheidung, die er später bereute, fand Nachahmer. Verbreitet war die Vorstellung, dass die Vertreibung Adams aus dem Paradies seiner Genusssucht zuzuschreiben sei und die Menschheit sich den Weg ins Himmelreich durch das gegenteilige Verhalten, das Fasten, ebnen könne; in der Spätantike vertrat sie u. a. der Kirchenvater Basilius der Große.[63] Generell galt das Fasten als verdienstlich. Das vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste (Matthäus 4,2–4), bei dem er schließlich Hunger empfand, aber der Versuchung durch den Teufel widerstand, diente als Vorbild für die erforderliche Standhaftigkeit.[64] Bei gebildeten spätantiken Kirchenvätern wie Johannes ChrysostomosAmbrosius von MailandHieronymus, Basilius dem Großen und Gregor von Nyssa machte sich in der Argumentation für eine asketische Lebensweise auch der Einfluss von stoischen, kynischen und neuplatonischen Ideen und Vorbildern bemerkbar.

Im späten 3. Jahrhundert verbreitete sich in Ägypten das Einsiedlertum der ersten Anachoreten. Sein berühmtester und einflussreichster Vertreter war der oft als Vater des Mönchtums bezeichnete Eremit Antonius der Große. Die Mönche lebten um der Askese willen in der Wüste (Wüstenväter), teils in Mönchszellen, teils als Wanderasketen. Als höchste Stufe der Askese galt die Nacktheit; einzelne Einsiedler verwirklichten ihr Armutsideal so radikal, dass sie auf jede Kleidung verzichteten.[65]

Antonius der Große betrachtete die Askese nicht als Verdienst, sondern als Pflicht. Nach seiner Überzeugung verschafft sie dem Asketen die Fähigkeit zu vollkommener Erfüllung der Gebote und macht ihn des Himmelreichs würdig. Zu den ersten Voraussetzungen dafür gehört die Absage an die „Welt“. Das bedeutet Verzicht auf den materiellen Besitz und Abstreifung aller familiären Bindungen. Der Kirchenvater Athanasius der Große trug mit seiner Lebensbeschreibung des Antonius maßgeblich zur Verbreitung dieses Gedankenguts bei. Aus dem ägyptischen Einsiedlertum entwickelten sich im frühen 4. Jahrhundert die ersten organisierten Mönchsgemeinschaften. Sie übernahmen das Askese-Ideal der Eremiten in abgewandelter Form. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei der Klostergründer Pachomios († 347).[66]

Die auf den Lehren der Wüstenväter fußende Strömung war zivilisations- und bildungsfeindlich, sie lehnte die „heidnische“ kulturelle Tradition ab. Ihre Einstellung bildet den Gegenpol zur Auffassung des Kirchenvaters Hieronymus, der für eine andere Richtung im Mönchtum vorbildlich wurde. Hieronymus lebte zwar asketisch, warb für diese Lebensform und verherrlichte das asketische Wüstenleben, war aber zugleich Gelehrter und verbrachte seine Zeit mit Vorliebe in seiner umfangreichen Bibliothek. Er wurde zum Urbild des gebildeten Christen, der Askese mit klassischer antiker Bildung und wissenschaftlicher Arbeit verbindet. Allerdings war sein Verhältnis zu den traditionellen Bildungsgütern schwankend und spannungsvoll.[67]

 
Die Säulenheiligen Symeon Stylites der Ältere (links) und Symeon Stylites der Jüngere auf einer Ikone

In Syrien entstand im 5. Jahrhundert eine Sonderform des Asketentums: die spektakuläre Lebensweise der Säulenheiligen (Styliten), die dauerhaft auf Säulen Wohnsitz nahmen. Schon in vorchristlicher Zeit war es üblich, dass ein Verehrer des Gottes Dionysos zweimal jährlich eine der phallischen Säulen im Tempel von Hierapolis Bambyke bestieg und für jeweils sieben Tage oben verblieb. Man glaubte, er sei in dieser Zeit der Gottheit nahe. Der erste Säulenheilige, Symeon Stylites der Ältere, baute sich die Säule, die ihm dann als Wohnstätte diente.[68]

In breiten Volksschichten war die Achtung vor den Säulenheiligen und die Bewunderung ihrer Lebensweise groß. Auch sonst genossen Asketen in der Spätantike höchstes Ansehen. Schon Antonius der Große war so angesehen, dass ein Briefwechsel mit ihm als besondere Auszeichnung galt und sogar der römische Kaiser ihm schrieb. Viele Christen, darunter Prominente, machten sich auf den Weg in die Wüste, um von den Eremiten Rat und Hilfe zu erbitten. Damit vereitelten sie das Bestreben der Einsiedler, zurückgezogen in der Einsamkeit zu leben, und veranlassten sie in manchen Fällen zur Flucht an entlegenere Orte. Für die Asketen war der Ruhm eine Herausforderung.[69]

Auch vornehme Frauen entschieden sich für eine asketische Lebensweise, oft nach ihrer Verwitwung. Teils blieben sie in ihrem bisherigen Stand, teils traten sie in Klöster ein. Sie widmeten sich körperlicher Arbeit, karitativen Aktivitäten und dem Studium religiöser Literatur.[70]

Bei gebildeten spätantiken Nichtchristen stieß die christliche Askese auf Unverständnis und heftige Kritik. Sie wurde als Dummheit, Krankheit und Wahnsinn eingestuft. Auch unter den Christen gab es Kritiker.[71] Zu ihnen zählte der zeitweilig einflussreiche Kirchenschriftsteller Jovinianus, der meinte, das Fasten sei nicht verdienstvoller als das Essen mit Dankbarkeit und es bestehe kein Rangunterschied zwischen keuschen Jungfrauen und Ehefrauen. Jovinianus warnte die asketisch Gesinnten vor Arroganz. Gegen ihn polemisierte der Kirchenvater Hieronymus, der überzeugt war, dass die asketische Lebensweise die verdienstvollste und jeder anderen überlegen sei. Daraus leitete Hieronymus eine Rangordnung ab; er meinte, den Asketen werde im künftigen Reich Gottes eine höhere Belohnung zuteilwerden als den übrigen Christen.

 

Von der Großkirche als häretisch eingestufte christliche Gemeinschaften vertraten oft einen rigoroseren Asketismus als die kirchlichen Amtsträger und Schriftsteller. Zu ihnen gehörte die im 2. Jahrhundert entstandene Bewegung der Montanisten, für die sich der bedeutende Schriftsteller Tertullian engagierte. Dieser Theologe hatte sich der Großkirche entfremdet, da deren Enthaltsamkeitspraxis ihm zu lax war. Tertullian forderte eine strenge Askese, zu der unter anderem der Verzicht Verwitweter auf eine zweite Ehe gehörte. Das Fasten betrachtete er als Sühne, die der Mensch für Adams Verzehr der verbotenen Frucht zu leisten habe. Adam habe sein Heil wegen seiner Esslust verscherzt, doch nun könne man sich als Christ mit Gott aussöhnen, der über die Ursünde des ersten Menschenpaars und damit der ganzen Menschheit erzürnt sei.[73]

Streng asketisch orientiert waren die Gruppen und Individuen, die von ihren kirchlichen Gegnern als Enkratiten („Sich beherrschende“ oder „Enthaltsame“) bezeichnet wurden oder sich auch selbst so nannten. In diesen Kreisen wurde das Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit so betont, dass die Ehe und Fortpflanzung als unerwünscht oder zumindest suspekt galt und insbesondere eine zweite Eheschließung nach dem Tod des ersten Ehepartners verworfen wurde. Die Enkratiten – darunter der prominente Theologe Tatian – wurden zwar von den Kirchenvätern als Häretiker bekämpft, doch erwies sich die Abgrenzung von ihnen als schwierig, denn das enkratitische Askeseideal hatte auch innerhalb der Großkirche zahlreiche Anhänger, deren Überzeugungen sich von denen der außerkirchlichen Enkratiten kaum unterschieden. Insbesondere in der syrischen Kirche war ein enkratitisches Askeseverständnis die herrschende Lehre.[74]

In der von Marcion im 2. Jahrhundert gegründeten Glaubensgemeinschaft, die stark von gnostischem Gedankengut beeinflusst war, wurde vor allem sexuelle Askese gefordert; anscheinend wurde auch Verzicht auf manche Nahrungsmittel verlangt. Die Grundlage dafür war die Ablehnung des Schöpfergotts, des Demiurgen, dessen Einrichtungen und Erzeugnisse man soweit möglich meiden wollte.

 

Im Islam wird die Askese als zuhd زُهْد („Verzicht“, „Entsagung“) bezeichnet, der Asket als zāhid. Dieser Sprachgebrauch war in vorislamischer Zeit noch unüblich und kommt auch im Koran nicht vor, er bürgerte sich erst ab dem 8. Jahrhundert ein. Gemeint ist Verzicht auf weltliche Interessen zwecks völliger Konzentration auf die erwartete Zukunft im Jenseits (āḫira) oder auf Gott. Dafür berufen sich die Asketen auf den Koran, der zahlreiche Hinweise auf die Bedeutungslosigkeit des Diesseits (dunya) und die Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens enthält. Unter Verzicht verstehen sie die Abkehr von einem zuvor begehrten Objekt, die zugleich Hinwendung zu etwas als besser Erkanntem ist. Der Verzichtende gibt das, worauf er verzichtet, nicht nur äußerlich auf, sondern er begehrt es auch nicht mehr. Als „Diesseits“ bezeichnen die muslimischen Asketen alles, was von Gott ablenkt und den Menschen von ihm trennt. Gemeint ist also nicht die ganze Welt der sinnlich wahrnehmbaren Objekte als solche, sondern „Diesseits“ ist nur die Gesamtheit dessen, was nicht auf Gott bezogen ist und nicht um seinetwillen genommen und verwendet wird.[94]

Hinsichtlich der weltlichen Güter bedeutet zuhd Beschränkung auf das Nötigste bei Ernährung, Kleidung und allen Besitztümern. Auf der geistigen Ebene geht es um Verzicht auf überflüssiges Reden, Schauen und Gehen (alle Arten der Beschäftigung mit Dingen, die einen nichts angehen) sowie um Freiheit vom Verlangen nach den Menschen.[95]

Eine ausgeprägte Askese wurde schon im 8. Jahrhundert im Umfeld der basrischen Qadarīya praktiziert. Zum Zeichen der Entsagung lief man in Lumpen umher oder kleidete sich in Wolle, denn Wollkleidung wurde von Bettlern getragen und galt als Zeichen der Erniedrigung. Diese Form der Askese war demonstrativ unbürgerlich, antikonventionell und provozierend.[96] Ein Zentrum gemeinschaftlich lebender Asketen war die Insel ʿAbbādān im Mündungsgebiet des Karun, auf der die heutige iranische Stadt Abadan liegt.[97]

Die namhaftesten frühen Asketen in Basra waren der einflussreiche Gelehrte und Prediger Hasan al-Basrī († 728) und die Lehrerin der Gottesliebe Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaisiyya († 801), die als Wegbereiter des Sufismus gelten. Als Sufis bezeichnet man die Vertreter einer asketischen Strömung, die im 8. und 9. Jahrhundert ein neuartiges Frömmigkeitsideal entwickelte, das bis heute Anhänger findet. Ihr Auftreten und ihre Lehren wurden von Traditionalisten als anstößig empfunden und sind unter den Muslimen weiterhin stark umstritten. Der Sufismus, dessen Name von der typischen Wollkleidung der Asketen abgeleitet ist, fordert eine besonders konsequente Entsagung. Er zählt zu den kulturgeschichtlich bedeutsamsten Erscheinungen der islamischen Welt und übt bis in die Gegenwart starken Einfluss aus. Für die Sufis ist die Weltentsagung ein zentraler Aspekt des religiösen Lebens, doch stellen sie im Unterschied zu anderen asketischen Traditionen ihre Übungspraxis in den Dienst einer radikal theozentrischen, alles Nichtgöttliche konsequent verwerfenden Frömmigkeit: Sie kritisieren die Hinwendung zum Jenseits (Himmel), da der Himmel als etwas Geschaffenes vom Schöpfer verschieden sei und daher ebenso wie das Irdische von ihm ablenke. Daher solle man sich weder um das Diesseits noch um das Jenseits kümmern, sondern ausschließlich um Gott.[98]

Die asketischen Bemühungen der Sufis sind von ihrer Überzeugung bestimmt, die Triebseele (arabisch nafs) sei eine törichte, lasterhafte und schändliche Instanz im Menschen, deren Schlechtigkeit man zu durchschauen habe und deren Begehrlichkeit man widerstehen müsse, wenn man Zugang zu Gott finden wolle. Ihre unheilvollen Eigenschaften werden in der Sufi-Literatur eindringlich beschrieben und auf ihre Sucht nach Genuss zurückgeführt. Die nafs wird als der schlimmste Feind des Menschen dargestellt. Daher wird gefordert, man solle sie verachten, sich vor ihr hüten, ihr keine Annehmlichkeit und Ruhe gönnen, sie bestrafen und sich von ihr lossagen. Auch die von der Religion erlaubten Genüsse des Diesseits werden als verhängnisvolle Konzessionen an das Begehren verworfen. Bis zum Tod höre der Kampf gegen die nafs nicht auf.[99]

Sehr wichtig ist im Sufismus neben der Bekämpfung des Besitztriebs auch die des Geltungstriebs, des Wunsches nach einer Machtstellung, nach Ruhm und Anerkennung. Bei Asketen zeigt sich dieser Trieb im Streben nach Lob für ihre Frömmigkeit und für asketische Leistungen und im Genießen des mit ihrem Status verbundenen Ansehens im Volk. Davor wird in der Literatur des Sufismus nachdrücklich gewarnt. Zur Vermeidung der damit verbundenen Gefahren wird den Sufis Zurückgezogenheit empfohlen. Beispielsweise kann man der Berühmtheit ausweichen, indem man an einen anderen Ort zieht. Auch konsequenter Verzicht auf unnötiges Reden gilt als hilfreich.[100]

Zur Praxis der Askese gehörten bei manchen mittelalterlichen Sufis auch dauerhafte harte Körperübungen wie Schlafentzug, Fasten und langes Stehen im Gebet. Extreme Übungen waren jedoch unter den Theologen und auch in asketisch orientierten Kreisen umstritten.[101] Auch das Prinzip des Verzichtens wurde bei den Sufis der Kritik unterworfen; als ihm überlegen galt der „Verzicht auf den Verzicht“, die Haltung desjenigen, der den Verzicht „vergisst“, weil er seine Aufmerksamkeit nicht mehr darauf zu richten braucht.

 

Unter den Renaissance-Humanisten traten ab dem 15. Jahrhundert Autoren auf, die den Epikureismus verteidigten und das Vergnügen (lateinisch voluptas) für das höchste Gut hielten. Damit kehrten sie die damals vorherrschende Wertordnung um. Insbesondere wandten sich Lustbefürworter gegen die Denkweise einer religiösen Strömung, die seit dem späten 14. Jahrhundert eine am Vorbild des Kirchenvaters Hieronymus orientierte strenge Askese propagierte. Sie kritisierten die asketische Vermeidung des Vergnügens und Bejahung des Schmerzes als widernatürlich. Ein profilierter Wortführer dieser Richtung war Lorenzo Valla.

Jeremy Bentham (1748–1832), der Begründer des Utilitarismus, vertrat das „Prinzip des Nutzens“, dem zufolge jede Handlung dem Ziel der Maximierung des Glücks und Minimierung des Leids dienen soll. Er betrachtete das Prinzip der Askese als dasjenige, das dem Prinzip des Nutzens absolut entgegengesetzt sei. Es bestehe darin, Handlungen dann gutzuheißen, wenn sie der Verminderung des Glücks dienen, und sie dann abzulehnen, wenn sie das Glück vermehren. Die Askese werde sowohl von Moralisten als auch von abergläubischen religiösen Menschen befürwortet, aber aus unterschiedlichem Grund. Das Motiv der Moralisten sei die Hoffnung, Anerkennung zu finden, also ein Streben nach Lust (pleasure). Bei den religiösen Menschen sei das Motiv ihre Angst vor einer göttlichen Strafe, also der Wunsch nach Leidvermeidung. Somit folgten beide in Wirklichkeit dem Prinzip des Nutzens. Gebildete neigten zu einer moralphilosophischen Begründung der Askese, schlichte Gemüter zu einer religiösen. Der Ursprung des Askeseprinzips liege in der Vorstellung oder Beobachtung, dass bestimmte Vergnügen unter bestimmten Umständen langfristig mehr Leid als Lust bewirken. Daraus sei eine unüberlegte generelle Abwertung der Lust und Aufwertung des Leids abgeleitet worden.

Immanuel Kant unterschied zwei Arten der Askese: die „moralische Ascetik“ als Tugendübung und die „Mönchsascetik“, die „aus abergläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht“. Die moralische Askese befürwortete er, allerdings nur, wenn sie „mit Lust“ praktiziert werde; anderenfalls sei sie ohne inneren Wert und werde nicht geliebt. Die Mönchsaskese hingegen bezwecke nicht Tugend, sondern „schwärmerische Entsündigung“. Der Asket bestrafe sich selbst, und dies könne nicht ohne geheimen Hass gegen das Tugendgebot geschehen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel wandte sich gegen eine Entsagung, die „in der mönchischen Vorstellung“ vom Menschen fordere, „die sogenannten Triebe der Natur in sich abzutöten“ und „der sittlichen, vernünftigen, wirklichen Welt, der Familie, dem Staat sich nicht einzuverleiben“. Solcher Askese stellte Hegel eine Entsagung entgegen, die er für richtig hielt. Diese sei „nur das Moment der Vermittlung, der Durchgangspunkt, in welchem das bloß Natürliche, Sinnliche und Endliche überhaupt seine Unangemessenheit abtut, um den Geist zur höheren Freiheit und Versöhnung mit sich selbst kommen zu lassen“.

Arthur Schopenhauer griff das fernöstliche und das christliche Askesekonzept billigend auf. Er sah in der Askese die Verneinung und Abtötung des Willens zum Leben. Die Verwerfung des Lebenswillens sei das Ergebnis der Einsicht in die „Nichtigkeit und Bitterkeit“ des Lebens. Der Asket wolle den Begierden ihren Stachel abbrechen; er lehne die Befriedigung seiner Wünsche ab, damit nicht die Süße des Lebens „den Willen wieder aufrege, gegen welchen die Selbsterkenntniß Abscheu gefaßt hat“. Daher ertrage er auch Leid und Unrecht gern, denn er sehe darin Gelegenheiten, sich seiner Weltverneinung zu vergewissern. Philosophische Reflexion sei dafür nicht erforderlich; eine intuitive, unmittelbare Erkenntnis der Welt und ihres Wesens genüge für die asketische Praxis, und auf diese allein komme es an. Daher sei es gleichgültig, ob der Asket ein Philosoph oder „voll des absurdesten Aberglaubens“ sei; wesentlich sei nur die Entsagung als solche.

In den Werken Friedrich Nietzsches kommt neben der dominierenden sehr negativen Einschätzung der Askese auch eine neutrale und eine positive vor. Während er Übungen zur Abtötung der Instinkte und der Sinnlichkeit scharf verurteilte, weil dadurch die Lebenskraft geschwächt werde, befürwortete er „Asketik“ als „Gymnastik des Willens“. Er wollte die Asketik wieder „vernatürlichen“, indem er an die Stelle der „Absicht auf Verneinung“ die „Absicht auf Verstärkung“ setzte. Die meiste Aufmerksamkeit widmete er dem Kampf gegen eine Askese, die er für verdorben und widernatürlich hielt.[108] Im dritten Teil seiner Schrift Zur Genealogie der Moral stellte Nietzsche 1887 die Frage „Was bedeuten asketische Ideale?“ Er beantwortete sie nacheinander hinsichtlich der Künstler (wobei er speziell Richard Wagner ins Auge fasste), der Philosophen (mit besonderer Berücksichtigung von Schopenhauer) und der Priester und wandte sich schließlich dem Verhältnis von Askese und Wissenschaft zu. Den Künstlern unterstellte er, die Askese bedeute ihnen nichts, denn sie nähmen sie nicht ernst. Den Philosophen warf er vor, sie seien für das asketische Ideal blind, da sie selbst daraus lebten und es daher nicht durchschauen könnten. Die Priester seien die Gestalter, Verwalter, Vermittler und Nutznießer des asketischen Ideals, für sie sei es ein Machtmittel. Die Wissenschaft sei, soweit sie überhaupt ein Ideal habe, „nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form selber“.[109] Nietzsche kam zum Ergebnis, das asketische Ideal verdanke seine Attraktivität dem Sinn, den es dem Leiden gebe; die asketische Weltverneinung sei ein „Wille zum Nichts“ und lieber wolle der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen.

Georg Simmel führte 1892 in seiner Einleitung in die Moralwissenschaft die Entstehung des asketischen Ideals auf die Grunderfahrung zurück, dass altruistisches Handeln oft nur durch Aufgeben und Niederkämpfen egoistischer Antriebe möglich ist. Nach Simmels Erklärung hat sich der Wert der positiven sittlichen Tat auf deren häufige Begleiterscheinung der Aufopferung und des Niederkämpfens der Unsittlichkeit übertragen. An die Vorstellung des sittlichen Tuns heftete sich „ein Schatten von Schmerz, Aufopferung und Überwindung“. In der antiken Philosophie galt das Leiden als etwas Gleichgültiges, das durchgemacht werden musste; erst im Christentum wurde es zu einem ethischen Wert erhoben. Der Prozess der Aufwertung des Leidens und Ertragens setzte sich dann in derselben Richtung fort, bis schließlich der positive Zweck der Aufopferung zurücktrat und die Entsagung und Schmerzzufügung als sittlicher Selbstzweck und für sich bestehendes Verdienst erschien. Als die Entsagung zum Wert an sich wurde, war der Standpunkt der Askese erreicht. Das Moment der Mühsal, des inneren Widerstandes hatte sich zu der Vorstellung einer besonderen Verdienstlichkeit verselbständigt. Der Wert eines Endzwecks wurde auf das zu ihm erforderliche Mittel übertragen. Diesen Vorgang veranschaulichte Simmel anhand der Beispiele des Fastens und der Keuschheit. In beiden Fällen diente die Entsagung ursprünglich dem Zweck, die Erhebung des Geistes zu höheren Gütern zu fördern; später wurde sie zum Gradmesser der Vollkommenheit. Ein weiterer Aspekt ist für Simmel die „Steigerung der Persönlichkeit“, die sich aus der Überwindung von Widerstand ergibt; das Besiegen eines inneren Widerstandes erzeugt ein Gefühl seelischer Erweiterung und Machtstärkung.